Das Erbe der Mütter | Von Kerstin Chavent

2 years ago
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Den vollständigen Standpunkte-Text (inkl ggf. Quellenhinweisen und Links) finden Sie hier:
https://apolut.net/das-erbe-der-muetter-von-kerstin-chavent
Die Geschichte weiblicher Herrschaft und Kraft zeigt Wege in eine egalitäre Gesellschaft, in der es nicht mehr um Herrschaft, sondern um Gleichberechtigung und Lebendigkeit geht.
Ein Standpunkt von Kerstin Chavent.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Die Geschichte der Menschheit der vergangenen Jahrtausende gleicht einer Aneinanderreihung von Kriegen, Machtkämpfen und gegenseitiger Ausbeutung. Das tiefe Misstrauen, das wir füreinander empfinden, bringt uns immer mehr gegeneinander auf und verhindert zunehmend, dass wir uns überhaupt noch begegnen. Ermöglicht wurde dies durch ein hierarchisch orientiertes, patriarchales Gesellschaftsmodell, das die Menschen in Unterdrücker und Unterdrückte einteilt. Die Arbeiten zu den noch existierenden matriarchalen Gesellschaften der Philosophin Heide Göttner-Abendroth zeigen, dass es anders geht. Frieden, Harmonie und Wohlstand für alle sind möglich, wenn die Frau im Zentrum steht, diejenige, die Leben empfängt und weitergibt.
Es ist Markttag. In bunten und üppigen Auslagen werden die Waren feilgeboten: frisches Obst und Gemüse aus lokalem Anbau, Teigwaren, lebende Hühner und Ziegen, allerlei Haushaltsgeräte und Werkzeuge, Stoffe und Körbe ― alles, was man zum Leben braucht. Menschen stehen in Gruppen zusammen und reden miteinander, Kinder spielen Fangen zwischen den Ständen. Ein Fest wird vorbereitet. Girlanden aus Blumen und Zweigen zieren den Platz. Musik klingt herüber, auf den Terrassen werden Tische und Stühle geschoben. Ich setze mich und bestelle einen Kaffee.
Es ist noch früh am Morgen. Männer überqueren den Platz. Die Nacht haben sie bei ihren Liebsten und Lebensgefährtinnen verbracht und sind nun auf dem Weg zu ihren Clanhäusern. Es sind Frauen, die diese Häuser führen und ihnen vorstehen. Sie halten die Güter zusammen und sind für deren gerechte Verteilung an alle Hausbewohner zuständig. Anders als die Männer sind sie dafür geeignet, für das Wohl aller zu sorgen, denn sie sind es, die Leben empfangen und auf die Welt bringen.
Benommen reibe ich mir die Augen. Ich muss geträumt haben. Es ist ja nicht möglich, als Ungeimpfte in einem Café zu sitzen, und ich lebe in keiner Gemeinschaft, in der Frauen im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens stehen. Ernüchtert sehe ich mich um. Nein, da ist kein Markt. Da sind keine fröhlichen Menschen, keine lachenden Kinder, keine von Frauen geführten Clanhäuser, keine Männer, die ihre Geliebten nachts besuchen und tagsüber dort beschäftigt sind, wo sie wohnen: in ihrem Clanhaus, das ebenfalls von einer Frau geführt wird.
Meinungsmache
Wie könnte das möglich sein? Wo leben Frauen und Männer zusammen, ohne dass sich ihre Liebe im Alltag verbraucht und ohne dass sie aus materiellen Gründen zusammenbleiben, ohne Hierarchien und Machtspielereien, Besitzansprüche und Gewalt? Haben nicht die vergangenen Jahrtausende gezeigt, dass das nicht funktionieren kann? Außer vielleicht bei ein paar Wilden gibt es in unserer Welt kein Matriarchat, eine Gesellschaftsordnung, in der laut Google und Duden „die Frau eine bevorzugte Stellung in Staat und Familie innehat und bei der in Erbfolge und sozialer Ordnung die weibliche Linie ausschlaggebend ist“. Den gleichen Wortlaut findet man, wenn man unter „Patriarchat“ nachschlägt, nur dass Frau durch Mann ersetzt wird.
Wer in der meinungsmachenden Wikipedia stöbert, findet unter Matriarchat, dass es keine wissenschaftliche und allgemein anerkannte Definition des Begriffes gibt. Man weiß nicht einmal, ob es sich hier um Fakten oder um Wunsch- beziehungsweise Angstbilder handelt. Bei dem Begriff Patriarchat hingegen ist man sich sicher: Es beschreibt in der Soziologie, der Politikwissenschaft und verschiedenen Gesellschaftstheorien ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, das von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird. Die römisch-katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen nenn...

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